Szene 12:
DER PRÄFEKT: Ich eröffne die letzte Sitzung dieses Prozesses zur öffentlichen und feierlichen Verkündigung des Urteiles über die Angeklagte.
Erhebe dich Angeklagte, und vernimm das Urteil, das über dich das Oberste Gericht Roms nunmehr sprechen wird!
Im Namen des göttlichen Kaisers, der heiligen Stadt Rom und des römischen Volkes.
Angeklagt des Hochverrates und der Götterlästerung ist die jugendliche Jungfrau Agnes im vollendeten 12. Lebensjahr, Tochter des Honorius Placidus und seiner Gemahlin Laurentia. Nach Untersuchung aller Tatbestände und nach unvoreingenommener und gerechter Prüfung der Person der Angeklagten in ihrem Tun und Lassen, des Grades ihrer Verantwortlichkeit und des Gewichts ihrer eigenen Aussagen fällen wir dieses Urteil:
Die Angeklagte wird der Götterlästerung für schuldig befunden. Auch wenn die Angeklagte behauptet, die Abkehr unserer Götter habe nicht notwendig deren Lästerung zu Folge, so ist doch der Götterglaube völlig unvereinbar mit der Christenlehre. Das Urteil über die der Götterlästerung angeklagte und überführte Jungfrau Agnes lautet:
Lebenslängliche Zwangsarbeit verächtlichster Art durch Dienst in einem Bordell der niedrigsten Stufe.
RUFE IM VOLK:
- Verbrennt die Christin! Die Christin soll brennen! Brennen!
- Ihr werdet alle zuschanden werden an diesem Kind. Es ist die lautere Unschuld selbst.
- Schande ist nicht genug! Tod der Gotteslästerin!
- Eine Stimme flüstert: Ihr tapferes Herz wird triumphieren über deren verirrte Gehirne.
DER PRÄFEKT: Führt die Gefangene ab in das Bordell!
Stimmengewirr wird leiser, bis es ganz aufhört, Musik fängt an
AGNES: schluchzend
Finstere Nacht umgibt mich, die Schauer des Entsetzens durchzittern meinen ganzen Leib.
Ich weiß, Herr, sogar jedes einzelne Haar auf meinem Haupt ist gezählt… und dennoch… ich blicke in das Dunkel, ein furchtbares Dunkel…
Herr, eile mir zu Hilfe! Gib den reinen Leib deiner Braut nicht der Schande preis!
AMBROSIUS: Ich versichere euch, Brüder, der Herr ist denen, die ihn anrufen, nahe; denen, die zu ihm aufrichtig rufen; er hört ihr Schreien und rettet sie (Ps 145,18-19)!
Während Agnes ihres Gewandes entblößt wurde – so wie auch ihr göttlicher Bräutigam auf Golgatha entkleidet ward -, um so, gedemütigt, an den Ort der Schande, in das Haus der Unzucht geführt zu werden; siehe, da wuchs ihr das Haar so lang, daß es sich wie ein Schleier um ihren reinen Leib legte. Und da sie gebracht wurde in das Haus der Schmach, erwartete sie dort ein Engel, hüllte sie in ein Lichtgewand und verwandelte so den Ort der Sünde in einen Ort des Gebetes…
Je mehr aber das Licht Gottes erstrahlt, desto verzweifelter wehrt sich die Finsternis, denn sie weiß: die Stunde ihres Gerichts ist nahe…
Szene 13:
Die Szene spielt sich in einer Taberne ab, die beiden Männer machen ab und zu einen hörbaren Schluck aus ihren Krügen.
CLAUDIUS: Seht euch nur den großartigen Verteidiger an! Du hast versagt, Aurelius Valerianus, und so geschieht es jedem, der das Unverzeihliche zu verteidigen sucht!
Nun erfüllt sich endlich mein Verlangen… Alles verlief wie am Schnürchen. Genau, wie ich es von Anfang an geplant hatte. Agnes hat sich verweigert, mein zu sein; nun wird sie es sein müssen.
AURELIUS: Langsam, Junge! Du hast zu viel getrunken! Noch ist es zu früh, den Sieg zu besingen. Dieses Mädchen hat mächtigere Verteidiger als mich…
Hast du schon gehört, daß heute, als sie in das Haus der Schande geführt wurde, ein unsichtbares Wesen sich vor den Eingang stellte, um sie davor zu bewahren, von der Unreinheit berührt zu werden?
CLAUDIUS: Ein unsichtbares Wesen! Nun, heute Abend wird es seine Macht unter Beweis stellen müssen, denn nichts und niemand wird mich aufhalten.
AURELIUS: Seit ich dieses Mädchen zum ersten Mal gesehen haben, hat sie mir so viele Rätsel aufgegeben. Wo liegt denn ihre Kraft? Es ist offensichtlich, daß in ihrer Gegenwart in manchen das Böse, in anderen das Gute geweckt wird. In dir hat sie augenscheinlich das Böse erweckt, in dem Gefängnispersonal augenscheinlich das Gute.
Je mehr ich über Agnes nachdenke, umso weniger Beachtenswertes bleibt an ihr übrig. Äußerlich das typische Schulmädchen im beginnenden Reifealter. Wenn auch hübsch, so doch nicht außergewöhnlich. Besondere geistige Gaben? Ich habe im Prozess jede ihrer Aussagen gehört. Was war denn da Erstaunliches? Nichts als eine gewisse Naivität und ein bißchen Schlauheit. Und doch – diese Macht über viele Menschen! Ich sehe keinen vernünftigen Grund für diese Wirkung. Weißt du ihn, Claudius?
CLAUDIUS zischend: Diese Hexe!
AURELIUS: Vorsicht, Vorsicht! Ich habe nicht das geringste von Zauberei bemerkt. Auch deine Liebestollheit ist deine eigene Sache. Das Mädchen will dich ja gar nicht und hat es daher nicht nötig, dich liebestoll zu machen. Nein, mein Junge, eine Hexe ist diese nicht! Aber fordere die Macht, die in ihr wirkt, nicht heraus!
CLAUDIUS: Niemand und nichts wird mich an meinem Vorhaben hindern!
Szene 14:
AMBROSIUS: Und so betrat dieses verdorbene Herz den Weg zum eigenen Gericht. Doch dort, wo die Dunkelheit sich verdichtet und ihres Sieges sicher scheint, läßt Gott sein Licht auf die Seinen leuchten. Plötzlich, als Claudius sich anschickte, die Schwelle der Tür zu überschreiten, um Agnes zu entehren, schlug aus der Tür eine hohe blendende Flamme. Aber das war keine Flamme. Das war ein feuriges Wesen, ein Lichtwesen, kein menschenähnliches, sondern ein göttliches. Claudius taumelte zurück, schrie auf und stürzte tot zu Boden.
Im Hintergrund hört man einen Schrei.
Alsbald kam sein Vater, der Präfekt, und trauerte um den verlorenen Sohn…
Man hört den Präfekten um Claudius trauern. Er erhebt den Leichnam und legt ihn zu Füßen der Jungfrau.
PRÄFEKT: Agnes, mein teures Kind, was ist geschehen?
eine kurze Stille
AGNES: Claudius wollte mir Schande antun. Aber der, dessen Gebote er übertreten wollte, hat seine Macht über ihn erwiesen und ihn getötet. Gott wollte ihn vor der Sünde bewahren und sandte seinen Engel, um ihn zu retten.
PRÄFEKT: So tu doch etwas, Agnes! Tu etwas!
Gib mir meinen Sohn zurück!
AGNES: Ich?
PRÄFEKT: Sagtest du nicht, daß der Hauch des Mundes deines Geliebten die Toten wieder zum Leben erweckt?
AMBROSIUS: Das Mädchen kniete zitternd vor dem Leichnam nieder, kreuzte die Arme über ihrer Brust zusammen und rief leise und demütig den Gott der Lebenden und der Toten an.
AGNES: Oh, du Lamm Gottes, erbarme dich unser! Oh Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser.
Sie wiederholt es dreimal, während Ambrosius spricht, und beim dritten Mal stimmt Claudius ein.
AMBROSIUS: Und siehe da, der Atem kehrte in den Toten zurück, sodaß er sich aufrichtete. Und da er das Leben wiedererlangt hatte, nicht nur das des Leibes, sondern noch viel mehr das des Geistes, stimmte er in das Gebet der Jungfrau ein.
CLAUDIUS, AGNES: Oh Lamm Gottes, Du nimmst hinweg die Sünde der Welt…. Eine kurze Stille
CLAUDIUS: Ich bekenne Deinen und meinen Gott, Jesus Christus, unseren Herrn und Heiland.