Koh 11,9- 2,8
Freu dich, junger Mann, in deiner Jugend, sei heiteren Herzens in deinen frühen Jahren! Geh auf den Wegen, die dein Herz dir sagt, zu dem, was deine Augen vor sich sehen. Aber sei dir bewußt, daß Gott dich für all das vor Gericht ziehen wird. Halte deinen Sinn von Ärger frei, und schütz deinen Leib vor Krankheit; denn die Jugend und das dunkle Haar sind Windhauch. Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: Ich mag sie nicht!, ehe Sonne und Licht und Mond und Sterne erlöschen und auch nach dem Regen wieder Wolken aufziehen: am Tag, da die Wächter des Hauses zittern, die starken Männer sich krümmen, die Müllerinnen ihre Arbeit einstellen, weil sie zu wenige sind, es dunkel wird bei den Frauen, die aus den Fenstern blicken, und das Tor zur Straße verschlossen wird; wenn das Geräusch der Mühle verstummt, steht man auf beim Zwitschern der Vögel, doch die Töne des Lieds verklingen; selbst vor der Anhöhe fürchtet man sich und vor den Schrecken am Weg; der Mandelbaum blüht, die Heuschrecke schleppt sich dahin, die Frucht der Kaper platzt, doch ein Mensch geht zu seinem ewigen Haus, und die Klagenden ziehen durch die Straßen – ja, ehe die silberne Schnur zerreißt, die goldene Schale bricht, der Krug an der Quelle zerschmettert wird, das Rad zerbrochen in die Grube fällt, der Staub auf die Erde zurückfällt als das, was er war, und der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat. Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, das ist alles Windhauch.
Die Mahnung, sich der Gegenwart Gottes bewußt zu sein und sich vor jedem Leichtsinn zu hüten, sollte nicht ungehört bleiben. Wir Menschen wissen eigentlich recht gut, daß alles Irdische vergänglich ist – und der Text stellt es uns erneut vor Augen. Auf die Vergänglichkeit der Dinge Nachdruck zu legen, ist nicht der Ausdruck einer negativen Weltsicht, wie man es zunächst vermuten könnte; es geht vielmehr darum, dem Menschen deutlich zu machen, worin er allein die wahre Sicherheit finden kann. Und diese Lektion ist wichtig für ihn!
Wir Menschen sind allzu leicht in der Gefahr, uns falsche Stützen zu suchen: Stützen, die nicht halten, wenn der Sturm kommt. Geistlich gesehen handelt es sich um Illusionen.
Es braucht manchmal klare Worte, damit man aus seinen Illusionen aufwacht. Ist es nicht besser, klare Worte zu vernehmen, als sich in einem Gespinst von eigenen Vorstellungen zu verwirren? Können nicht Krankheit und Tod, Leid und Katastrophen zu Lehrmeistern werden, wenn wir ihre Botschaft zu lesen vermögen?
Lektionen wie der obige Text von Kohelet werden einsichtig für uns, wenn sich unser Herz in Gott verankert und wir zuerst sein Reich suchen (Mt 6,33).
Die Liebe lehrt uns, Gott nichts vorzuziehen und alles aus seiner Hand entgegenzunehmen. Die Liebe schenkt uns den rechten Abstand, damit wir in der Freiheit der Kinder Gottes mit all dem, was uns im Leben begegnet, in rechter Weise umzugehen vermögen: Die Schönheit der vergänglichen Dingen kann uns dann nicht mehr betören, sondern zeugt von der verschwenderischen Liebe des himmlischen Vaters zu uns; der Wein erfreut das Herz des Menschen (Ps 104,15), wird aber nicht zum Fallstrick; der irdische Reichtum dient uns, Gutes zu tun und wird nicht zu einer falschen Sicherheit; Leid und Unglück werden nicht zum Anlaß für Verzweiflung, sondern der Mensch reift in der Schule Gottes.
Wenn wir unser Herz Tag für Tag in Gott verankern, ist dies der Weg, wie wir lernen, mit den Augen Gottes zu sehen und in seiner Liebe zu handeln. Wir ermöglichen dem Heiligen Geist – unserem “inneren Lehrer” – die notwendige Scheidung der Geister durchzuführen, um uns vom rein menschlichen Denken zu lösen.
Im Licht Gottes verändert sich der Blick auf das Leben, und wir lernen das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden: Mit Dankbarkeit betrachten wir die Schönheit der Schöpfung und wissen gleichzeitig um ihre Vergänglichkeit. Wir erfreuen uns an den Menschenkindern und vergessen doch nicht ihre Begrenztheit. Wir dürfen im Lichte Gottes unsere tiefere Bestimmung erkennen und wissen doch sehr, wie bedürftig wir der Hilfe Gottes sind, damit wir das werden, zu was wir berufen sind.
Kohelet möchte, daß wir uns nicht im “Windhauch” verlieren, sondern uns dort verankern, wo kein Windhauch, sondern wahres Leben ist.