Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.
Wie vertraut ist uns das Bild vom guten Hirten! Als gläubige Menschen wissen wir sehr gut, daß Gott selbst der gute Hirte der Menschen ist und daß er uns das durch das Kommen Jesu deutlich gemacht hat. Die Schafe sind diejenigen, die sich dem guten Hirten anvertrauen, auf ihn hören, seine Stimme kennen und ihm folgen. Überall auf der Welt hat sie Jesus gerufen und ruft sie heute noch, um sie in seiner Kirche zu sammeln. Um im Bild zu bleiben, das Jesus benutzt: Die Kirche bildet den Schafstall, und die Tür zu ihm ist der Herr selbst.
Aber es gibt auch Diebe und Räuber. Es sind die, die zu den Schafen kommen, aber nicht im Namen des Herrn. Sie kommen in ihrem eigenen Namen und haben andere Absichten: Sie stehlen, sie schlachten, sie vernichten und erweisen sich so als Feinde, oft auch als falsche Propheten.
Doch der wahre Hirte liebt seine Schafe. Er kennt jedes einzelne und führt es auf gute Weide. Die Schafe folgen ihm, weil sie mit ihm in Liebe verbunden sind. Darum kennen sie seine Stimme und unterscheiden sie sehr wohl von den Stimmen anderer, denen sie nicht vertrauen, sondern vor denen sie fliehen.
Wenn diese Worte zunächst auch an die gerichtet sind, die der Herr aus dem Volk der Juden – um im Bild zu bleiben: aus dem »Stall Israel« – sammelt, so reichen sie doch weit darüber hinaus, denn Jesus sagt später: “Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muß ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten”.
Seine Zuhörer verstanden aber den Sinn des Gleichnisses nicht. Denen, die an ihn glaubten, wird es sich im Laufe der weiteren Ereignisse um den Herrn immer mehr erschlossen und sein Geist es ihnen gedeutet haben.
Es muß in das Bewußtsein der Menschen gelangen, daß Gott selbst in seinem Sohn kommt, um seine Herde zu sammeln. Zuerst beruft er das Volk Israel, seinen »Erstgeborenen«, das schon viele Jahrhunderte darauf vorbereitet wurde, den Messias zu erkennen, denn “das Heil kommt von den Juden” (Joh 4,22).
Dann wendet sich das Heil Gottes in Jesus an die ganze Menschheit, wie wir es an der Beauftragung der Jünger durch den Herrn deutlich erkennen: “Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!” (Mk 16,15). Die Menschen sollen erkennen, daß Gott der Vater aller Menschen ist, und es in seinem Sohn wahrnehmen, der im Auftrag des Vaters kommt. Das ist der bleibende Auftrag der Kirche, die sich als sein Leib aus allen Völkern gebildet hat (vgl. Eph 1,22).
Da aber unser himmlischer Vater seinen Geschöpfen, den Menschen, die Freiheit geschenkt hat, kann diese auch mißbraucht werden, wie es schon bei den gefallenen Engeln geschah und bei allen, die sich der Einladung Gottes im selben Geist bewußt entzogen haben. Solche Menschen laufen Gefahr, nicht das Wesen und die Art Gottes anzunehmen, versuchen also nicht, wie er vollkommen zu werden und seine Güte und Weisheit widerzuspiegeln, wozu Jesus uns einlädt (Mt 5,48), sondern nehmen stattdessen das Wesen des gefallenen Engels an, der als eine Art pervertierter Vater fungiert. Deshalb warnt Jesus so eindringlich vor den Dieben und Räubern, die in diesem Geist in die Herde eindringen wollen, um sie zu vernichten.
Dennoch ist es immer wieder geschehen, und wir sehen es schon in den Anfängen der Verkündigung Jesu, als er die Seinen berufen hat, daß der Widerstand besonders von denen kommt, die mit ihm hätten sammeln sollen, statt zu zerstreuen, das Reich Gottes aufrichten, statt es zu verhindern, das wahre Leben von ihm zu empfangen, statt ihn töten zu wollen.
Auch wenn der Ruf Gottes an alle Menschen ergeht und wir in der Nachfolge Christi daran festhalten, ihn den Menschen kundzutun, dürfen wir nicht die Widerstände übersehen, denen das Reich Gottes bis ans Ende der Zeiten ausgesetzt sein wird. In der vertrauten Beziehung mit Jesus gilt es, sehr gut den Unterschied wahrzunehmen zwischen der Stimme Jesu, die wir sowohl in unserem Inneren als auch in der Heiligen Schrift und im authentischen Lehramt der Kirche kennen, und jenen Stimmen, die vom Weg des Herrn abweichen und uns den Zugang zu den fruchtbaren Weiden versperren wollen. Es bleibt das Wort des Herrn: “Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden”.