Liebe Leser, heute unterbreche ich die täglichen fortlaufenden Auslegungen, denn hier in Jerusalem, wo ich mich derzeit mit Harpa Dei befinde, feiert man das Fest der Weihe der Grabeskirche. In dieser Kirche befindet sich sowohl die Stelle, an der Jesus gekreuzigt wurde, als auch der Ort der Auferstehung. Diese zwei zentralen Stellen, Golgotha und das Grab, stehen im Mittelpunkt der liturgischen Feiern und sind auch das Ziel vieler Pilger.
Wir wollen Euch heute ein wenig an unserem Dienst im Heiligen Land teilhaben lassen. Zudem sollen alle Zuhörer wissen, daß wir sie immer besonders an das Kreuz des Herrn mitnehmen, sowie in unsere Gebetszeiten an diesem heiligen Ort.
Nachdem wir über zwei Jahre wegen der Coronamaßnahmen nicht mehr in Jerusalem waren, kehrten wir im Mai wieder in die Heilige Stadt zurück, in der wir uns vor dem Jahr 2020 häufig aufgehalten haben. In gewisser Weise ist Jerusalem unsere “Wahlheimat”.
Auch viele Pilger kommen wieder in die Stadt des Herrn, wenn auch in geringerem Ausmaß, als in der Zeit vor den staatlichen Restriktionen in Bezug auf Corona.
Die Grabeskirche oder “Basilika des Heiligen Kreuzes” genannt, ist in vielerlei Hinsicht einmalig. Eine große Besonderheit ist, daß griechisch-orthodoxe, armenische, koptische und katholische Christen über Rechte in dieser Kirche verfügen und sie alle an den heiligen Stätten ihre sehr unterschiedlichen Liturgien feiern. So ist die Kirche sowohl häufig in der Nacht als auch täglich in den Morgenstunden mit heiligem Gesang erfüllt.
Wir, d.h. Harpa Dei und ich und Sr. Corinna, verbringen die ersten Stunden unserer morgendlichen Gebetszeit in der Stille vor dem Kreuz. Um diese Zeit sind noch recht wenig Beter da, die Gruppen kommen meist etwas später.
Während wir beten, hören wir im Hintergrund die armenische Liturgie, die gegen 3.30 Uhr beginnt. Obwohl die Armenier ein kleines Volk sind, sind sie an vielen der heiligen Stätten in Jerusalem präsent. Als erstes Land, das im frühen 4. Jahrhundert das Christentum als offizielle Religion annahm, hat Armenien eine uralte Liturgie mit Gesängen, die während der heiligen Mysterien in der Basilika erklingen. Einer der schönsten dieser Gesänge ist das “Surb”, welches wir im Hintergrund hören: “Heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott der Heerscharen”.
Die Kopten, die Christen Ägyptens, sind ebenfalls in der Grabeskirche vertreten. Diese Christen haben, umgeben von einer muslimischen Mehrheit in ihrem Land, ihre Treue zu Christus oft sogar unter Preisgabe ihres Lebens erwiesen. Die Kopten feiern ihre Liturgie dreimal in der Woche um 5.00 Uhr an der Hinterseite des Grabes. Der Gesang “Epouro”, der jetzt im Hintergrund erklingt, gilt als einer der schönsten liturgischen Gesänge der koptischen Kirche: “O König des Friedens, gib uns Deinen Frieden und vergib uns unsere Sünden”.
Mit der koptischen Liturgie überkreuzt sich zeitlich öfters die lateinische Heilige Messe der Franziskaner, die um 6.30 Uhr vor dem Grab des Herrn und am Freitag am Ort der Kreuzigung zelebriert wird. Dank des Freimutes des Heiligen Franz von Assisi, der nicht zögerte, den Sultan selbst aufzusuchen, sind die Franziskaner seit mehr als 800 Jahren die Wächter – die “Custodes” der heiligen Stätten. Vor dem Grabe Christi zelebrieren sie häufig die Votivmesse der Auferstehung des Herrn, deren gregorianischen Eingangsvers wir im Hintergrund hören.
Drei- oder viermal pro Woche feiern die Griechisch-Orthodoxen ihre Göttliche Liturgie um Mitternacht, die Tore der Grabeskirche werden dann geöffnet und man kann an der Feier teilnehmen. Häufig kommen die orthodoxen Pilger in großer Zahl, trotz des “Schlafopfers”, welches sie dafür bringen müssen. Ihre Liturgie ist von großer Feierlichkeit geprägt, und während der Osterzeit erklingt im Hintergrund immer wieder der Auferstehungsruf: “Christus ist erstanden von den Toten, im Tode bezwang er den Tod, und brachte den Entschlafenen das Leben.”
Unsere kleine Truppe singt am frühen Morgen die Laudes und am Abend die Vesper und die Komplet in der Kapelle der Heiligen Helena. Es ist dort, wo das Kreuz gefunden wurde, welches Helena – die Mutter von Kaiser Konstantin – suchen ließ. Nicht selten kommen andere hinzu, bleiben oder hören eine Weile zu, manchmal sind es ganze Pilgergruppen, und die Menschen nehmen die Gesänge tief auf. Es ist für sie ein Moment der Ruhe und Sammlung in einer großen Kirche, welche durch die vielen Besucher den Tag über recht unruhig ist. So wird die Gebetszeit in der Gnade des Herrn auch zu einem apostolischen Dienst, und manche Zeugnisse belegen, was die heilige Musik bewirkt.
Wir hoffen, daß wir Euch mit diesem kurzen Bericht und den heiligen Gesängen der verschiedenen liturgischen Traditionen, die hier in Jerusalem den Reichtum der Kirche in besonderer Weise zum Ausdruck bringen, im Geiste in die Grabeskirche, welche auch als “Basilika der Anástasis”- d.h. der Auferstehung – bekannt ist, versetzen konnten.