Lk 6,39–45
In jener Zeit sprach Jesus in Gleichnissen zu seinen Jüngern: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen? Ein Jünger steht nicht über dem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, laß mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge;
dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte bringt, noch einen schlechten Baum, der gute Früchte bringt. Denn jeden Baum erkennt man an seinen Früchten: Von den Disteln pflückt man keine Feigen und vom Dornstrauch erntet man keine Trauben. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund.
Ein reicher Text wird uns heute vom Herrn anvertraut. Wir konzentrieren uns heute auf das Thema, daß man nicht richten soll.[1]
Jesus lehrte uns, daß wir behutsam mit den Fehlern anderer Menschen umgehen sollen. Der Herr kennt uns Menschen sehr gut und weiß um unsere Versuchung, die eigenen Fehler nicht zu bemerken, sie kleinzureden, zu relativieren, möglichst von ihnen nicht viel wissen zu wollen. Hingegen kann es leicht geschehen, daß wir die Fehler anderer Menschen zu unserem großen Anliegen machen und sehr aufmerksam auf sie sind. Es kann sogar geschehen, daß wir uns über jene Fehler anderer Menschen besonders erregen, die unseren eigenen, mehr verborgenen und nicht offen vor uns liegenden, ähnlich oder gar identisch mit ihnen sind. Deshalb kann man gut sagen: Selbsterkenntnis schützt vor der Torheit, sich über andere Menschen zu erheben.
Mit dem Gebot Jesu: “ Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!” (Mt 7,1) – besonders mit dem lieblosen Richten – ist gemeint, den anderen Menschen zu verurteilen. Dies ist ein äußerst liebloser Akt, der aus einem unversöhnten Herzen kommt, einem Herzen, das in der Regel selbst noch nicht die vergebende Liebe Gottes richtig erfahren und verinnerlicht hat. Hätte der Mensch dies nämlich, zusammen mit der rechten Selbsterkenntnis, dann könnte er gar nicht lieblos verurteilen. Er wüßte, wie Gott ihm begegnet und würde sich danach richten.
Das ist der Schlüssel für die Begegnung mit dem anderen Menschen und somit unser Maßstab. Übernehmen wir das für unser Leben, dann beginnen wir, mit dem Maß Gottes zu messen und zuzuteilen. Dann wird sich unser Richten immer an der Weise Gottes orientieren.
Hier muß man nun genau den Unterschied ziehen: “nicht richten” bedeutet nicht, daß wir eine konkrete Handlung nicht beurteilen könnten, ob sie dem “Maß Gottes” entspricht oder nicht. Das Wort des Herrn darf nicht so verstanden werden, daß wir sozusagen alles akzeptieren müssen, was andere Menschen tun, sondern wir müssen klar unterscheiden zwischen einer Handlung und der Person, die sie ausführt.
Ein einfaches Beispiel: jemand stiehlt. Diese Handlung ist falsch und wir können sie auch als solches betrachten. Das Urteil wäre also: Es ist eine falsche Handlung. Wir wissen jedoch nicht die ganzen Umstände des Stehlens, vielleicht geschah es nicht nur aus Habgier, sondern auch aus Not; vielleicht wurde derjenige sogar genötigt zu stehlen usw. Deshalb sollen wir ihn mit unserem Urteil nicht für immer als Dieb festlegen. Vielleicht hat er sogar seinen Fehler bereits erkannt und bereut…
Auch mit dem anderen Beispiel, welches Jesus im heutigen Evangelium nennt, müssen wir richtig umgehen, denn er hat uns nicht angewiesen, grundsätzlich die Fehler anderer zu übersehen, sondern er hat uns den rechten Weg gezeigt, wie man damit umgehen soll. Es würde ja sogar gegen die Liebe und die Wahrheit verstoßen, wenn wir den anderen Menschen in seinem Fehler belassen würden, obwohl wir die Möglichkeit hätten, ihn darauf aufmerksam zu machen. Wir sollen ja der Hüter unseres Bruders sein (vgl. Gen 4,9)!
Ich möchte dies an einem Beispiel aufzeigen: Unsere Hebamme Margaretha von der Gemeinschaft Agnus Dei hatte ein Beratungsgespräch mit einer Frau, die mit der Frage umging, ob sie abtreiben solle oder nicht! Sie entschied sich dann nach einem langen Gespräch für das Kind und erzählte ihr später, was das Entscheidende für sie war: unsere Hebamme hatte ihr gesagt, sie müsse ihre Entscheidung nach der Wahrheit richten und die Wahrheit wisse sie ja von ihrem christlichen Glauben her (die Betreffende hatte christliche Wurzeln) – nämlich, das Kind leben zu lassen – und diese Entscheidung für ihr Kind müsse sie auch gegen den Willen ihres Freundes treffen.
In der Folge fand sie ein ganzes JA zu ihrem Kind, und auch der Freund ist dieser Entscheidung dann gefolgt und beide freuten sich nun auf das Kind.
Der Kern der Aussage des Herrn im heutigen Evangelium ist, den Primat der Liebe geltend zu machen. Die Begegnung mit unseren Brüdern und Schwestern und mit den anderen Menschen, die unser ferner stehen, soll von jenem Geist erfüllt sein, mit dem Gott uns begegnet. Um diesen Geist können wir ständig bitten und unser eigenes Herz reinigen lassen. Dann wird die rechte Haltung gegenüber den anderen Menschen in uns Raum finden.
[1] Zur Vertiefung des anderen zentralen Themas des heutigen Evangeliums, der “Selbsterkenntnis” können meine Ansprachen vom 27.-30. Juni 2020 dienen: